EINE DEKADE IST VORREITHER IM SATTEL. ZEIT FÜR EINEN PERSÖNLICHEN BLICK ZURÜCK NACH VORN.
„Embrace the change!“, so hallt der Schlachtruf ja schon immer in unserer Kommunikationsbranche. Ich muss es wissen, seit über 30 Jahren bin ich – selbstgewählt – im Schweinsgalopp dabei. Ich umarme stoisch den Wandel, und wenn mir dabei doch einmal schwindelig wird, halte ich mich an der Wurzel fest, die diese beiden Wortbildungen, Wandel und schwindelig, gemeinsam haben. Denn unsere wundervolle Sprache ist ein unbestechliches Wirklichkeitsmodell. Ich liebe sie dafür. Fast um so mehr, je weniger sich die Kommunikationsbranche mit ihr noch beschäftigt.
Gegen die Informationsflut kämpfen oder „go with the flow“?
Guter Text ist ein einsames Handwerk. Das war vor 30 Jahren schon so. 2015 überragte der Goldfisch allerdings den Menschen bereits in seiner durchschnittlichen Aufmerksamkeitsspanne um eine knappe Sekunde. (Wenn man der berühmten Microsoft Studie Glauben schenkt.) Inzwischen hat sich die menschliche Attention Span aus dem Jahr 2000 halbiert. Sie ist bei 6 Sekunden angekommen, während Goldfische ohne Medienkonsum immer noch 9 Sekunden schaffen dürften. „TLTR“ – too long to read – wird dann kommentiert. Sollen Texte primär den Suchmaschinen schmecken? Oder führen Texte, die an Keywords entlang gehäkelt wurden, zwangsläufig zum Untergang der Texterzunft? Für alles gibt es inzwischen eine schematische Vorlage. Und seit 2024 spätestens soll ich jetzt auch noch die KI embracen. ChatGPT kann viel schneller sabbeln als jeder Mensch. Hurra.
Keep calm and have a beer
Jeder ist ersetzbar, sagten die Agenturchefs gerne mal in den Neunzigern. Bis heute ungebrochen ist die Nachfrage aber für Selbstorganisation, Kreativität, Verantwortungsbereitschaft, Enthusiasmus, Teamgeist, Trendgespür, Akribie, Erfahrung, Perspektivwechsel, Kundenverständnis, gute Laune … Tendenz eher steigend, wage ich zu prognostizieren. Langfristig jedenfalls, denn erst wenige beschleicht beim Embracen ein Grusel wie weiland Danton: „Die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder.“ – oder die Erinnerung an die Geschichte vom Turbokapitalismus und den toten Innenstädten: Diese Ödnis hat im Nachhinein auch keiner gewollt. Schwund gehört zum Wandel, heißt es. Auch wenn ich befürchte, wir wandeln uns den technischen Machbar-machern unaufhaltsam hinterher, hätte ich da mal eine Frage: Wenn bald nur noch Cyborgs mit Templates blutleere, hirnlose Werbung ausstanzen – wenn der wachsenden Zahl selbsternannter Influencer eines Tages ein immer kleineres Gefolge gegenübersteht – wenn unsere Werbelandschaft ähnlichen Zombie-Status wie E-Commerce-vermurkste Innenstädte erreicht hat – was macht dann unsere Wirtschaft? Bin ich im falschen Film? Noch schwanke ich zwischen „Man reiche mir eine Tür, der menschliche Esprit möchte gehen.“ und „Zombie-Apokalypse: Die Rückkehr der Ideen-Ritter“.
Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man …
An einem sonnigeren Tag entscheide ich mich für die hoffnungsvollere Perspektive: Ohne Unternehmenskommunikation keine Wirtschaft! Wem diese Wertschöpfung unklar ist, dem fehlt der Realitätssinn! Menno! Derlei Eigenmotivation hat nur leider meist die Halbwertszeit einer Pusteblume. Wenn ich ganz, ganz ehrlich bin, schleppe ich diese Friedrich-Merz-Attitude verschnupfter Anerkennungssuche immer noch mit mir herum. Zu persönlich nehme ich es bis heute, dass Werbeagenturen das schlechteste berufliche Ansehen in der Bevölkerung haben. Eine Umfrage des Deutschen Beamtenbundes hat’s mal wieder bestätigt. (Nur Versicherungsvertreter schneiden noch drastischer ab.) Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, dass ich mit keiner beruflichen Laufbahn glücklicher geworden wäre. Meine Schwächen und Stärken wären nirgendwo sonst Breite mal Tiefe dermaßen herausgefordert worden. Es war meine freie Entscheidung für einen ungesicherten Entwicklungsweg. Millionen Frauen in anderen Teilen der Erde haben nie diese Chance. Und für viele war meine Entscheidung gut. Was merze ich dann so herum? Im Unterschied zur KI kann ich Beziehung und Kausalität unterscheiden. Ätsch. Und besser schreiben. Bäm.